Historisches Kalenderblatt
Abb.: Blick in den Theatersaal des Wirtschafts- und Kulturgebäudes des ehemaligen Lagers Steimbel der WASAG bei Neustadt (Hessen), Fotografie: Katharina Noell, 2023.
08. MÄRZ 1945 - Kreativer Widerstand gegen Hitler durch die niederländische Zwangsarbeiterin Johanna „Annie“ Elisabeth Frequin (1914-2003)
Nur durch verschlossene Fenster hindurch kann heute noch der Ort einer einzigartigen Widerstandsaktion gegen Hitler besichtigt werden, die sich am Morgen des 8. März 1945 im Theatersaal des Wirtschafts- und Kulturgebäudes des Lagers Steimbel bei Neustadt zutrug (Abb.). Nach der Befreiung 1945 als Stadtteil von Neustadt (Hessen) eingemeindet, war das Lager Steimbel zur Zeit des 2. Weltkriegs eine moderne Siedlung für deutsche Rüstungsarbeiter der Sprengstoffwerke Allendorf der WASAG.
Wie vieles andere der Sprengstoffwerke Allendorf im Nationalsozialismus steht auch die wechselhafte Geschichte des im Frühjahr 1941 fertiggestellten Lagers Steimbel in engem Zusammenhang mit dem Überfall auf die Sowjetunion durch das Hitler-Regime am 22. Juni 1941. Erst durch diesen monströsen Vernichtungskrieg und die damit verbundene Steigerung der Rüstungsproduktion sowie die massive Erhöhung des Bedarfs an Arbeitskräften wurden schließlich auch solche Siedlungen wie der Steimbel zu Zwangsarbeiter*innen-Quartieren, die ursprünglich den deutschen „Gefolgschaftsmitgliedern“ vorbehalten waren.
Mit dem Wandel der Siedlung zum Lager veränderte sich auch die Nutzung der sonst in keinem Barackenlager zu findenden und schon gar nicht für Zwangsarbeiter*innen vorgesehenen Kultureinrichtungen dieser „deutschen“ Siedlungen. Was ehemals „bunten Abenden“ und Kinovorführungen für die „arische“ Belegschaft vorbehalten war, wurde nun funktionalisiert für den Einsatz von „Fremdarbeitern“ aus den von der Hitler-Diktatur besetzten und unterdrückten Ländern.
Am 8. März 1945 wird diese paradoxe improvisierende Nutzung von Kultureinrichtungen bei der Abwicklung von Zwangsarbeit von einer niederländischen Zwangsarbeiterin als Chance erkannt, den deutschen Machthabern den Spiegel vorzuhalten. Dazu verurteilt, zusammen mit anderen Leidensgefährtinnen im Theatersaal des Lagers Steimbel auf ihren Abtransport zum Schichtbetrieb in den Sprengstoffwerken Allendorf zu warten, nutzt Johanna „Annie“ Elisabeth Frequin ein in dem Theatersaal befindliches Klavier für einen kurzen, risikoreichen Moment des Protests.
In Erwartung der baldigen Befreiung der näher und näher rückenden Allierten spielt sie auf dem Klavier die englische Nationalhymne. Für dieses „deutschfeindliche Verhalten“ wird „Annie“ Frequin am 9. März 1945, wenige Tage vor der Befreiung der Sprengstoffwerke Allendorf, bei der Gestapo angezeigt. Sie überlebt die NS-Zeit und stirbt 2003 in ihrer Heimatstadt Den Haag.
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Abb.: Meldekarte von Albertus Johannes Taken, Hengelo (Gelderland, Niederlande) vom 31. März 1943, DIZ Stadtallendorf.
20. SEPTEMBER 1944 - Explosionsunglück mit elf Todesopfern in der Granatenfüllstelle Gebäude 3168 der Sprengstoffwerke Allendorf der WASAG
Am Abend des 20. September 1944 gegen 20.00 Uhr ereignete sich in einer der Granatenfüllstellen der Sprengstoffwerke Allendorf der WASAG im Herrenwald nahe Allendorf ein folgenschwerer Betriebsunfall. Die Detonation zerstörte eines der Gebäude dieser Füllstelle, ein so genanntes "Schmelz,- Misch und Gießhaus" zur Verarbeitung von flüssigem TNT völlig, ein nebenstehendes Gebäude wurde schwer beschädigt. In den Gebäuden mussten Zwangsarbeiter*innen aus verschiedenen Herkunftsländern, unterschiedlichen Alters und Geschlechts arbeiten. Von ihnen wurden am 20. September 1944 elf in den Tod gerissen.
Durch Einsicht in die örtlichen Sterberegister konnte Näheres über die Personen ermittelt werden. Von den männlichen Opfern war das jüngste gerade einmal 17 Jahre alt, das älteste 50. Die Frauen waren 19, 20, 25 und 44 Jahre alt. Sieben von ihnen (ein Italiener und sechs Osteuropäer) lebten im Lager Steimbel bei Neustadt, vier (zwei Deutsche und zwei Niederländer) waren in Lagern bei Allendorf untergebracht.
Durch die Kooperation mit Kollegen in den Niederlanden konnte der Name eines dieser Opfer ermittelt werden. Es handelt sich um Albertus Johannes Taken aus Hengelo. Seine Familie erfuhr nicht durch die Leitung des Sprengstoffwerkes, sondern erst durch den Brief eines anderen niederländischen Zwangsarbeiters vom Tod ihres Sohnes.
In Zusammenarbeit mit Jan Hendrik Wansink (Hengelo(G)/Doetinchem, NL), Andrea Freisberg (Neustadt) und Katharina Noell (Neustadt).
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Abb. oben: Bahnhof Allendorf 1944 (mit Verwaltungsgebäude, heute Sitz DIZ Stadtallendorf, unten links und Lager am Teich oben links) / Abb. unten KZ-Außenlager Münchmühle bei Allendorf 1941 / Abb. mitte: wahrscheinlicher Fußweg der ungarischen Jüdinnen vom Bahnhof Allendorf zum KZ-Außenlager Münchmühle am 16. August 1944
16. AUGUST 1944 - Ankunft von tausend ungarischen Jüdinnen aus Auschwitz als Zwangsarbeiterinnen in den Sprengstoffwerken Allendorf der DAG
Für tausend ungarische Jüdinnen ist der 16. August 1944 am Bahnhof Allendorf ein Tag voller Bangen, Trauer und Hoffnung zugleich. Die Frauen und Mädchen sind KZ-Häftlinge, sie kommen aus Auschwitz. Sie und ihre Familien waren während der Massendeportationen ungarischer Jüdinnen und Juden Mitte 1944 in das Vernichtungslager im Südosten des vom NS-Regime besetzten Polen deportiert worden. Unter den Häftlingen, die dem sicheren Tod in Auschwitz entkommen können und von der SS als Zwangsarbeiterinnen an die Sprengstoffwerke Allendorf der DAG „ausgeliehen“ werden, ist Eva Fahidi. Wie alle der tausend jüdischen Ungarinnen, die an diesem Mittwoch in Allendorf eintreffen, hat auch Eva Fahidi ihre Familie in Auschwitz verloren.
In ihre Trauer um den unersetzlichen Verlust und das Entsetzen über die Erlebnisse in den Wochen seit dem 1. Juli in der Hölle von Auschwitz und seit dem Abtransport von dort am 13. August mischt sich bei ihrer Ankunft am 16. August in Allendorf die Bangigkeit und die Ungewissheit über die Qualen in einer Fabrik und einem Lager in Deutschland. Bis zu ihrer Befreiung durch die Alliierten Ende März 1945 werden Eva Fahidi und ihre Leidensgefährtinnen in Allendorf Bomben und Granaten mit Sprengstoff befüllen müssen. Durch die Kooperation der DAG mit der SS und dem Umbau eines der insgesamt zehn bereits bestehenden Barackenlager der Sprengstoffwerke zu einem KZ-Außenlager wird Allendorf zu einem Standort des Holocaust.
Die Ankunft der jüdischen Ungarinnen ist auch für die Zwangsarbeit in den Sprengstoffwerken Allendorf insgesamt ein Tag der Mahnung und Besinnung. Ab 1940 werden praktisch wöchentlich Frauen und Männer aus so gut wie allen besetzten Ländern Europas und auch außereuropäische Kriegsgefangene zur Zwangsarbeit nach Allendorf transportiert. Doch zu keinem anderen Zeitpunkt treffen mehr Menschen an einem einzigen Tag zur Zwangsarbeit in den Sprengstoffwerken Allendorf ein als die tausend jüdischen Ungarinnen am 16. August 1944.
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1. JULI 1944
Vor 80 Jahren am 1. Juli 1944 kam Éva Fahidi im Viehwaggon mit Tausenden anderen Kindern, Frauen und Männern im KZ Auschwitz-Birkenau an. Als die deutsche Wehrmacht und SS-Einheiten am 19. März 1944 Ungarn besetzen, war Éva Fahidi 18 Jahre alt. Unter der Regie des Leiters des Sondereinsatzkommandos, Adolf Eichmann, zwang Nazi-Deutschland die jüdische Bevölkerung auf dem Land und später auch in Budapest in Ghettos. Mit 151 Zügen wurden in wenigen Wochen rund 420.000 Ungarinnen und Ungarn aus den Ghettos nach Auschwitz-Birkenau geschickt. Éva Fahidi war eine von ihnen. Am 27. Juni verließ der völlig überfüllte Viehwaggon, ohne Wasser und nur einem Eimer als Toilettenersatz, die ostungarische Stadt Debrecen. „In der Morgendämmerung des 1. Juli 1944 auf der Rampe von Auschwitz-Birkenau war meine Jugend vorbei. Alles wurde mit einer Handbewegung zunichte gemacht, mit der Handbewegung, durch die Mengele mich auf die eine, meine Eltern und meine Schwester auf die andere Seite schickte“, erinnerte sich Éva Fahidi. Éva wurde als arbeitstauglich selektiert; ihre Eltern und ihre kleine Schwester zum Tod in die Gaskammern geschickt. Am 13. August wurde sie zur Zwangsarbeit in eine Rüstungsfabrik in Stadtallendorf in Hessen verschleppt.
Wenn in unserer Gegenwart erneut Antisemitismus und immer neue Anleihen an die dunkelste Geschichte Eingang in den Alltag finden, dann erinnert ihr Zeugnis von der Hölle auf Erden und mahnt uns, dass Geschichte nicht vergeht. Wir setzen gerade auch auf junge Leute, damit Rassismus und Antisemitismus keinen weiteren Raum in unserer Gesellschaft erlangen.
Maren Schoening, 1. Juli 2024, im Namen des Eva Fahidi Dialog-Programms